Milky Way, 2019 / various materials / dimensions variable / view of exhibition Galerie Da Mihi, Bern
Dicht an dicht fallen grosse, milchig leuchtende Tropfen in den mittleren Galerieraum. Die neusten und für die Ausstellung eigens arrangierten Objekte von Niklaus Wenger aus wellenförmig zusammengesteckten Schaumfolien sind Tropfen und Leuchten, sind Kunst- und Designobjekte zugleich. Durch das Zusammenspiel der membranartig zusammengefügten Blätter mit dem Licht wird eine anmutig feierliche Stimmung erzeugt, von der Leichtigkeit eines Wolkengebildes. Der Eindruck einer Verführung oder Utopie liegt nahe. Allerdings haftet der raumfüllenden Installation mit den gigantischen Tropfen auch etwas Monumentales an und mag bei der Begehung beengend, ja fast bedrohlich wirken. Ebenso ambivalent sind die Assoziationen mit verschiedenen Tropfenformen aus der Natur gegenüber modernistischem Lampendesign oder dekorativen Festschmuck im Sinne der elegant geschwungenen Form. Weiterhin steht die Installation sinnbildlich für den Entwicklungsprozess und das eigentliche Ziel, wohin Niklaus Wenger mit seinen ausgiebigen Recherchen und Experimenten zum Material und zur Form hin tendierte: für das Reintropfen von Ideen, den Ideeneinfall.
Ein Grossteil der Objekte hängt schwebend im Raum wie in einem Moment des Innehaltens. Andere sind kurz vor dem Aufprall oder liegen bereits am Boden auf. Unvermittelt tauchen Bilder aus der Erinnerung, mithin dem kollektiven Gedächtnis auf. Die frühesten reichen zurück ins Kindesalter, zum Spiel mit allen möglichen Flüssigkeiten. Dann der Anblick von Regentropfen: Wie perlenbesetzte Fäden fallen sie vom Himmel, um sich auf trockenem Untergrund gleich wieder aufzulösen und anderswo in Pfützen einen Tanz aufführen und feine Wellen zu schlagen. Weltbekannt sind heute die Bilder der Milk Drops von Harold Eugene Edgerton, der das Phänomen in den 1930er Jahren erstmals mittels einer Hochgeschwindigkeitskamera auf Papier bannte. Bis heute ist das Motiv beliebt in der Kunst und Populärkultur, wegen der Vertrautheit aus der eigenen Wahrnehmung und des Staunens über den Effekt des Auftreffens am Boden oder des Eintauchens und raschen Aufspritzens und wieder Verfüchtigens. Ausserdem sind fallende Tropfen ein Sinnbild für die Gravitation als ureigene physikalische Kraft, die die Welt zusammenhält.
Rund ein Jahr lang hat Niklaus Wenger recherchiert und mit Materialien sowie Formen experimentiert. Und kam dabei über den Weg vom Design zurück zu einer mehrheitlich künstlerischen Umsetzung. Wobei er sich bewusst in einem Grenzbereich zwischen Kunst und Design bewegt und die Tropfen sich nicht eindeutig verorten lassen. Wegen ihrer fragilen Materialität und Grösse wären sie als Leuchten für die industrielle Herstellung und den Vertrieb kaum geeignet, ebenso wenig für die Beleuchtung von Wohn- oder Arbeitsräumen. Sie verkörpern vielmehr etwas Modellhaftes, sind Prototypen oder Stellvertreter eines eigentlichen Designobjekts. Niklaus Wenger experimentierte zunächst mit verschiedenen Mischungen aus Kasein, einem Grundstoff aus Milchproteinen zur Käseherstellung, bekannt auch als Bindemittel bei Kaseinfarben. Die Masse, welche er selbst aufkochte, verhielt sich beim Ausgiessen und Trocknen jedoch allzu unberechenbar. Dieses Scheitern war gleichsam ein Antrieb zur Fortsetzung der Materialfindung, die letztlich zur Plastikschaumfolie, einem häufig verwendeten Verpackungsmaterial führte.
Das spezielle Interesse von Niklaus Wenger an den Vorgängen des Ausprobierens und Entwickelns einer Form ausgehend vom Material, kommt in den beiden Kabinetträumen der Galerie erzählerisch zum Ausdruck: hier sind Prototypen, Materialproben und Rezepturen oder Schablonen für die Herstellung der einzelnen Leuchtsegmente zusammengestellt. Mal dokumentarisch, mal abgeändert und inszeniert, fügen sich die Artefakte wie die Staffage eines Films wiederum zu einer eigenen Erzählung des Künstlers und erweiterten Assoziationsräumen für die Besucherinnen und Besucher.
Marc Munter, Kunsthistoriker, Bern